Delta- und
Gleitschirmclub Schaffhausen

René Stoll flog mit seinem Delta vom schaffhausischen Beggingen bis zum bayrischen Kloster St. Maria Ursberg. 150 km weit über dem Flachland auf Strecke. Und fast noch abenteuerlicher als der Hinflug war dann die Rückfahrt auf dem Boden.

Dienstag, 18. Juni 1996: Eigentlich hatte ich mich überhaupt nicht auf Fliegen vorbereitet. Doch der Wetterbericht am Radio machte mich neugierig. Ein Hoch über Skandinavien solle immer noch das Wetter bestimmen, feuchtere Luft aus dem Norden solle zu einer gewissen Labilisierung führen, eine Kaltfront nähere sich der Schweiz von Western her. Irgendwie roch das nach Streckenwetter. Also hiess es, die Sondendaten von Payerne über Videotext hineinzuziehen und im CU-2 zu laden. Was da für ein Temp herauskam, war phänomenal. Wenn wir diese Luftschichtung am Mittag wirklich bei uns haben, dann werden die 100 km heute fallen, dachte ich mir. Ich erledigte alle dringenden Arbeiten, so dass ich um 11 Uhr mit den Flugvorbereitungen beginnen konnte.

Um 13 Uhr 20 stehe ich startklar am Startplatz Ob Lucken. Der starke Westwind reisst mich von der Rampe weg, und ich steige wie in einem Lift im dynamischen Aufwindband des hinteren Randens gratis von 879 auf 1200 m ü.M. Gerade beim Hausschlauch angekommen, hört das Steigen für einen Moment auf, und dann gibt's einen kräftigen Ruck am Steuerbügel, der Zeigen am Vario schnellt auf 4 m/s. So flott habe ich den Einstieg noch nie geschafft. Die Basis liegt auf etwa 2200 m. Dort angekommen, habe ich dank dem starken Wind, welcher hier oben etwa 30-40 km/h betragen sollte, bereits gute 8 km Strecke zurückgelegt. Die nächste Wolke steht gut; mit dem Wind gleite ich zu ihr hin. Obwohl ich nur etwa 200 Höhenmeter unter ihr ankomme, zieht die Wolke zu meiner Verwunderung nicht. Die scheint überhaupt kenie Eigendynamik zu entwickeln, also weitergleiten. Unter mir beobachte ich den von dem toten Cumulus stammenden Wolkenschatten und hoffe, dass dieser eventuell die Thermik am Boden ablöst. Tatsächlich, es fängt an unruhig zu werden, wie wenn einer am Steuerbügel rütteln würde, und jetzt beginnt der Delta wieder zu steigen. Allerdings sind keine 4 Meter mehr drin. Aber gute 1,5 - 2 m sind auch nicht schlecht. Über mir bildet sich ein neuer Cumulus. An der Basis hört das Steigen auf. Es "fühlt" sich an wie Blauthermik. Zwischen den Wolken steht also jeweils der Schlauch. Die Taktik sollte sich dann auch auf dem ganzen Flug bewähren.

Die thermischen Aufwinde tragen mich über Engen - Aach - Stockach - Pfullendorf - Sigmaringen Dort - Alt.- Heilig-Kreuztal bis zwischen Biberach und Laupheim. Hier ist der Radius auf meiner Karte eingezeichnet, wo die 100 km erreicht sind. Freudig denke ich für mich:" Jetzt habe ich ihn endlich in der Tasche - den Hunderter ab Beggingen!" Und an eine Landung ist nicht zu denken, die Verhältnisse sind ideal. Doch ist ganz am Rand auf meiner ICAO-Karte eine TMA eingezeichnet: die müsste zu München gehören. Weil ich jetzt zum Kartenrand hinausfliege, und ich nicht weiss, was sich hinter der TMA verbirgt, leite ich den letzten Gleitflug ein. Es ist zwar zum Heulen, denn die Wolken stehen noch super, und die Thermik wird eher besser. Ich gleite zum nächsten grösseren Ort, der eine Bahnlinie hat und einen Bahnhof - das kann ich erkennen. Die Landewiese ist ausgemacht, meine Höhe über Grund beträgt noch etwa 150 Meter. Das Vario fängt wieder zu piepsen an. Ich drehe nochmals ein. Der Schlauch bringt 20 Zentimeter Steigen, der kommt mir wie gerufen, den nehme ich noch mit und mache noch ein paar Kilometer, indem mich der Wind mit diesem schwachen Schlauch weiter nach Osten versetzt. Die Thermik wird jetzt wieder gut, bis 2.5 m/s. Weil ich weiss, das ich nicht mehr als 300 Meter über Grund steigen darf, verlasse ich den Schlauch und entscheide mich endgültig zur Landung in einer frei angeströmten, langen gemähten Wiese, neben einem Klostergebäude. Der Wind bläst noch so stark, dass ich praktisch senkrecht heruntersinken kann. Erst in den letzten Metern über dem Boden erhalte ich etwas Vorwärtsfahrt über demselben. Ohne auszustossen, kann ich sanft aufsetzen. Ein Blick auf die Uhr: es ist 16 Uhr 45.

So, da bin ich jetzt. Die Flugaufgabe ist erfüllt, schade dass ich nicht weiterfliegen konnte, es wäre sicher über 200 km gegangen. Der Himmel ist in Richtung Osten von den schönsten Wolkenstrassen geziert. Nun, man muss auch einmal mit etwas zufrieden sein. Die nächste Aufgabe wartet ja schon, sie heisst: Wie komme ich nach Hause? Den Flügel beim Kloster deponiert, will ich an der Landstrasse nach dem Ort trampen, wo ich den Bahnhof gesehen habe. Da ist ja eine Bushaltestelle. Glück muss der Mensch haben. In drei Minuten fährt der nächste Bus nach Krumbach, und dort muss ich in. Weil ich der einzige Fahrgast bin, darf ich vorne beim Chauffeur auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Er fragt mich:"Sinds zu Goast hia?" - "Jain", antworte ich "ich bin auf dem Luftweg gekommen und muss jetzt wieder nach Hause." - "Jo mai - dann worn Sie des mit dem Drachen, i hob änä gsen landen, wo i rauf gfoarn bin, wouls a Mineralwoasser, i hob oains do?" Weil wir in den nächsten Minuten in Krumbach sein werden, bedanke ich mich für das freundliche Angebot und erkläre, dass ich in Krumbach sicher gleich Gelegenheit habe, mich in einem Biergarten zu erfrischen. "Jo woulns oa Bia, i geb oains aous", war seine spontane Antwort. Gleich hält er den Bus an der Haltestelle an, öffnet seine Kühlbox und schenkt mir beim Aussteigen ein kleines Pils. Ohne Flaschenöffner muss ich den Bierdeckel nach alter Pfadfinderart am Busbänkli öffnen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht schon ein Zug am Bahnhof bereit. Ich beeile mich, denn er könnte ja gleich fahren. Der Fahrplan zeigt mir an, dass der nächste Zug erst in einer halben Stunde fährt. Dreieinhalb Stunden Flug verbraucht mehr Flüssgkeit als ein kleines Bier, deshalb begebe ich mich in das kleine Restaurant neben dem Bahnhof, um noch den Rest aufzufüllen. Jetzt will ich mich ums Billett kümmern und suche den Schalter. Der ist so versteckt und überhaupt nicht gekennzeichnet, dass ich zwei Mal um das Gebäude laufen muss, um ihn zu finden. Der Mann am Bahnschalter kommt in offensichtlichen Stress. Da will doch jetzt noch einer ein Billett nach Schaffhausen, und das fünf Minuten vor der Zugabfahrt. Nun, er schafft es knapp und stellt mir ein Billet aus mit der Route: Krumbach - Günubzrg - Ulm - Friedrichshafen - Tuttlingen - Singen - Schaffhausen. In Ulm muss ich umsteigen und habe zwölf Minuten Zeit, mir was Essbares zu kaufen. Der Bahnhoflautsprecher kündigt den Zug nach Memmingen - Kempten etc. an, mit Weiterfahrt nach Singen.

Ich frage einen Bahnschaffner, ob ich diesen Zug nehmen müsse, Er zückt ein handgrosses Plastiketui, darin sind etwa zehn Notizzettel aus Hartkarton, darauf sind handgeschriebene Zeichen (Ortschaften, Zeiten und Zahlen) dreht einige davon um, steckt sie wieder in den Haufen und bestätigt mit schliesslich den Zug. Also steige ich ein. Bis nach Memmingen fährt er Vollgas und ohne Halt durch. Da habe ich Glück, denke ich, das ist ein Schnellzug. Die Fahrt geht weiter und von jetzt an zieht unser Lokomotivführer bei jedem kleinen Bahnhöflein die Bremse. Vom Flachland kommend, fahren wir in die Allgäuer Alpen. Ich will doch eigentlich heim, und jetzt sind links und rechts Berge. Nach drei Stunden Bahn(irr)fahrt interessiere ich mich für die Route, die wir da abklappern. Ich nehme meine ICAO-Karte aus der Matte und beginne gerade mit dem Studium, als die erste Schaffnerin - entschuldigung Zugbegleiterin - mein Billett sehen will. Ich spreche sie auf den unmöglichen Umweg an, den wir fahren. Sie nimmt meine ICAO-Karte und sagt: "Zeigen Sie einmal her." Sie schaut darauf und schaut darauf..., gibt mir die Karte kommentarlos zurück und erklärt, dass dies schon die richtige Route sei und übrigens die einzig mögliche, um von Ulm nach Singen zu kommen. Wenigstens unterbricht ihr Besuch meine Langeweile etwas. Damit sei auch erwähnt, dass ich der einzige Fahrgast in dieser Wagenhälfte bin. Draussen ist es inzwischen dunkel geworden. Die Tour führt weiter am Bodensee entlang, von dem ich wegen der Dunkelheit leider nichts sehe. Vier verschiedene Zugbegleiter wollen alle auf den letzten Kilometern mein Billett auch noch stempeln, bis ich um 24 Uhr 10 endlich in Singen ankomme. Obwohl die Fahrkarte bis Schaffhausen verkauft worden ist, fährt kein Zug mehr weiter nach Schaffhausen. Zu allem Überfluss muss ich ein Taxi mieten. Sicherheitshalber mache ich mit dem Chauffeuer einen Fixtarif aus. Am Grenzübergang in Thayngen will der Zollbeamte seinen Computer mit den Daten unserer Ausweise füttern. Dabei nimmt er es ganz genau. Er gibt sie uns nicht zurück, sondern gleich seinem Schweizer Kollegen weiter, welcher dasselbe Spiel wiederholt. Die Taxometeruhr tickt derweil fröhlich weiter. Zum Glück habe ich einen Fixtarif ausgehandelt! Nun, das deutsche und das Schweizer Fahndungssystem hält uns für unschuldig, und wir dürfen die letzten Kilometer in Angriff nehmen. Dass justament auch noch eine Umleitung kommen muss, ist ja schon fast selbstverständlich und stört mich gar nicht. Das Taxi hält vor meiner Haustür, es ist 00 Uhr 40. Müde, aber glücklich über das schöne Flugerlebnis sinke ich bald darauf ins Bett.

Wie ich den Flügel wieder geholt habe? Das ist eine andere Geschichte. Soviel sei verraten: mit dem Auto natürlich, es sind ja nur 200 km auf der Strasse für einen Weg. Die Strassen sind genauso gut erschlossen wie das Bahnnetz. Mit einem 50-km/h-Schnitt ist man gut bedient - rechne!

Fazit:
150 km Luftlinie mit Delta = dreieinhalb Stunden
150 km Luftlinie mit der Bahn = sechs Stunden
150 km Luftlinie mit dem Auto = vier Stunden

Wer's eilig hat, sollte den Delta nehmen.
Oder: Wer in Bayern Steckenfliegen will, soll mit Vorteil Ziel-Rück- oder Dreicks-Aufgaben lösen.

René Stoll